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Drei Thesen zum Umgang mit lebensbeendenden Maßnahmen bei Menschen im Wachkoma

Es ist grundsätzlich festzustellen, dass in Deutschland ganz offenkundig die Bereitschaft wächst, das Tötungsverbot zu lockern und unterschiedliche Formen der aktiven Sterbehilfe zuzulassen. Aus Hospizsicht hat nicht zuletzt der 66. Deutsche Juristentag  in Stuttgart 2006 in diese Richtung fatale Signale gesetzt (vgl. das Gutachten des Bonner Strafrechtlers Verrel u. a.). Aber auch Umfragen in der Bevölkerung weisen immer wieder in ähnliche Richtung. Die Hospizbewegung sieht dies mit großer Sorge. 

In diesem Zusammenhang ist der gesellschaftliche Umgang mit Menschen in extremen Lebenssituationen besonders bedeutsam. Zu solch extremer Lebenssituation zählt unter anderem auch das Leben im Wachkoma. Hier wird von Angehörigen ebenso wie von Helfenden immer wieder einmal gefragt, ob es wirklich richtig ist, dieses Leben im Wachkoma zu erhalten bzw. unter welchen Umständen es angemessen sein könnte, dieses Leben zu beendigen.

Diese Diskussionen werden meistens eher im Verborgenen geführt. Nur vergleichsweise selten geraten sie – meist anhand spektakulärer Einzelfälle – in die Öffentlichkeit. Vielfach wird an der Art der öffentlich geführten Diskussion dann deutlich, wie wenig stabiles Wissen über das Phänomen „Wachkoma“ in der Bevölkerung besteht. Deutlich wird auch, dass Entscheidungs-Optionen bisweilen stark aus dem Blickwinkel der nicht Betroffenen bewertet und ethische Grundlagen zu wenig in Betracht gezogen werden. 

Mit den folgenden drei Thesen soll versucht werden, aus dem Blickwinkel von Hospizarbeit und Palliativmedizin den Fragen zum Umgang mit lebensbeendenden Maßnahmen bei Menschen im Wachkoma nachzugehen.


Zunächst aber einige kurze Hinweise zum Krankheitsbild „Wachkoma“ aus medizinischer Sicht:

Beim Wachkoma handelt es sich um eine Störung der Verbindung zwischen Hirnstamm und Großhirnrinde, die den Kranken in einen Schwebezustand zwischen Bewusstlosigkeit und Wachheit versetzt. Dies hat zur Folge, dass der betroffene Mensch sensorische Eindrücke nicht oder nicht vollständig bewusst verarbeiten kann und vor allem nicht durch übliche Ausdrucksformen mit der Umwelt kommunizieren kann. Im Extremfall führt dies dazu, dass diese Menschen zwar Bewusstsein haben (wie kürzlich die britische Forschergruppe um den Neurowissenschaftler Adrian Owen vom britischen Medical Research Council in Cambridge in der Fachzeitschrift „Science“ beschrieb), aber über keinerlei Reaktionsmöglichkeit nach außen verfügen. Wie neurophysiologische Studien zeigen, ist bei einer großen Zahl von Menschen im Wachkoma wenigstens mit einem regen mentalen Leben zu rechnen. Wir müssen uns das so vorstellen, dass die Kranken die Umgebung und sich zwar wahrnehmen, aber nicht darauf nach außen reagieren können. Deshalb brauchen sie unseren besonderen Schutz.
 

These 1:        Bei Patienten im Wachkoma handelt es sich um behinderte Menschen, nicht um sterbende.
Nach ärztlichem Verständnis handelt es sich bei Menschen im Wachkoma um Kranke. Besteht das Wachkoma über längere Zeit, spricht man von chronischer Krankheit und bei stabilem Befund von Behinderung.
Die Festlegung auf chronische Krankheit oder Behinderung erscheint deshalb aus palliativer Sicht als besonders bedeutsam, weil auf diese Weise eine Abgrenzung zu sterbenden Menschen erfolgt. Menschen im Wachkoma aber sind nicht sterbende, sondern behinderte Menschen, die bei guter Pflege einschließlich ausreichender Nahrungszufuhr (ggf. über eine Magensonde) Jahre, wen nicht Jahrzehnte leben können. (Erst kürzlich ist ein Mann nach 19 Jahren Wachkoma sogar wieder zu einem voll bewussten und reaktionsfähigen Leben erwacht; vgl. Der SPIEGEL, 34 / 2006.)


These 2:        Bei der Unterlassung der Nahrungszufuhr bei Patienten im Wachkoma handelt es sich um Tötung.
Da sich Menschen im Wachkoma bei stabiler Gesamtsituation nicht im Sterbeprozess befinden (s. o.), können hier auch nicht die Argumente, die sonst für passive Sterbehilfe angeführt werden, Gültigkeit erlangen. Zu Recht ordnet der Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Ethik und Recht der modernen Medizin“ Menschen im Wachkoma ausdrücklich der Gruppe der „Nichtsterbenden“ zu  (Zwischenbericht Patientenverfügung, Drucksache 15/3700 vom 13.09.2004, Seite 13). Dem stimmte u. a. auch jüngst das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) zu. Die Beendigung der Nahrungszufuhr bei Menschen im Wachkoma beschleunigte somit nicht den Todeseintritt bei einer sterbenden Person, sondern tötet einen schwer behinderten Menschen. Dieser stirbt dann nicht am Wachkoma oder einer Begleiterkrankung, sondern daran, dass es unterlassen wurde, ihn zu ernähren.

In solchen Fällen wird bisweilen argumentiert (und von Vormundschaftsgerichten akzeptiert), es werde mit dem Nahrungsentzug nur der mutmaßliche Wille der Kranken befolgt; die Tötung erfolge also mit Zustimmung, ja eigentlich sogar auf Wunsch der kranken Menschen. Dabei fußt man auf Äußerungen in (lange zurückliegenden) gesunden Tagen. Der Gültigkeit von Willenserklärungen aus länger zurückliegenden oder aus gesunden Zeiten bei Menschen mit chronischer Krankheit und Bewusstseinsstörung wird zahlreich widersprochen (s. o. Enquete-Kommission und ZdK sowie: Interview mit dem früheren Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof im Rheinischen Merkur vom 21.09.2006). Wir wissen aus einer breiten Forschung zu diesen Fragen, dass Willensäußerungen vor einer Erkrankung nur in eher zufälligem Zusammenhang mit den Wünschen und Absichten stehen, die in der Krankheit geäußert werden. (Literaturübersicht siehe bei Fagerlin und Schneider, Hastings Center Report 34, 2004, 2, Seite 30 – 42; vgl. auch Kübler et al. in Neurorehabilitation and Neural Repair 19, 2005, Seite 182 – 193). Wird dies nicht beachtet und stattdessen auf „alte“ Äußerungen Bezug genommen, ergibt sich daraus im Extremfall ein Freibrief zur flächendeckenden Tötung von Wachkomatösen. Denn Äußerungen „so nicht“ leben zu wollen, lassen sich sicherlich bei der breiten Mehrheit der Bevölkerung finden. – Tatsächlich soll es in den USA bereits Überlegungen geben, Menschen im Wachkoma der Gruppe der Hirntoten gleichzustellen – durchaus auch unter dem utilitaristischen Aspekt der „Organernte“ (Laureys, Nature Reviews Neuroscience, Bd. 6, Nov. 2005, Seite 899).

Wie wenig stabil menschliche Willenserklärungen hinsichtlich des eigenen Lebensendes tatsächlich sind, erhellt auch folgende Tatsache: Nordamerikanische Suizidforscher (Maris in: Assessment and Prediction of suicide 1992, Seite 3 – 24) haben gefunden, dass 85 – 90 % der Menschen, die einen Suizidversuch unternehmen und überleben, diesen in den nächsten 10 Jahren nicht wiederholen. Ein Suizidversuch ist ja wohl eine äußerst nachhaltige Willensäußerung zum Tode. Selbst hier ist also Wandelbarkeit typischer als Willenskontinuum.

Was deshalb hier zu fordern wäre ist, dass jeweils der aktuelle Wille des kranken Menschen erkundet wird. Dies ist zugegebener Maßen bei Menschen im Wachkoma nicht einfach. Grundsätzlich gibt es allerdings eine ganze Reihe von erprobten Zugangswegen zu Menschen im Wachkoma, die genutzt werden sollten (siehe z. B. Zieger in Neurologie & Neurologische Rehabilitation 2003; 9, 1, Seite 42 – 45).

Wenn sich der aktuelle Wille einer nicht äußerungsfähigen Person nicht mit hinreichender Sicherheit eruieren lässt, sollte gemäß dem Nürnberger Ärztekodex gelten: Im Zweifel für das Leben.


These 3:        Die Begründung für die Tötung von Menschen im Wachkoma gemahnt bisweilen an eine Denkweise, wie sie auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand (und schließlich zu schrecklichen Exzessen im Nationalsozialismus führte).
Mir erscheint es wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir in Deutschland einer besonderen Verpflichtung unterliegen, aus den Geschehnissen im Anfang des vorigen Jahrhunderts zu lernen. Es ist ja gerade nicht so, dass die Gräuel des Nationalsozialismus wie ein schreckliches Schicksal über uns gekommen sind. Die Anfänge – und um die geht es mir – wirkten doch ausgesprochen harmlos. Der Sozialpsychiater und Historiker Klaus Dörner spricht in diesem Zusammenhang von „tödlichem Mitleid“ (1988). Der Umgang mit behinderten Menschen war im Ausgang des 19. und im Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus auch von (aus heutiger Sicht zunehmend fehlgeleitetem) Mitleid geprägt: Die Situation des behinderten Menschen wurde dabei in vielen Fällen von außen betrachtet, ohne die innere Wirklichkeit des Betroffenen ausreichend zu berücksichtigen. Hieraus konnte die Idee entstehen, dass dieses Leben „erbärmlich“, „unwürdig“, „wertlos“, „sinnlos“ sei. Von da entwickelte sich dann zunehmend die Frage, was mit solchen Menschen geschehen solle. Sie seien „unheilbar“, „geistig Tote“, würden nur „künstlich am Leben gehalten“ und seien eigentlich „von ihren namenlosen Qualen [zu] befreien“ (vgl. Benzenhöfer: Der Gute Tod? München 1999; Frewer, Brandenburg. Ärzteblatt 12/2001, Seite 375 – 378). Erst viel später kam dann das schreckliche Unwort von den „Ballastexistenzen“ u. Ä. auf. Selbst der entsprechende Erlass Hitlers, als Auftakt zur T4-Aktion, formuliert die Dinge ja fast noch harmlos, fast fürsorglich klingend: „...dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranke bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann, “ heißt es da verschleiernd. Beinahe unmerklich war die Medizin – wie der große Arzt Christoph Wilhelm Hufeland schon 1836 hellsichtig prophezeite – auf eine „schiefe Ebene“ geraten, wurde der Arzt „der gefährlichste Mensch im Staat“.

Davon sind wir heute natürlich zum Glück weit, weit entfernt. Die Diskussion um die Würde eines Lebens im Koma, in der Demenz, der ALS und in anderen Formen der schweren Beeinträchtigung wird aber auch heute wieder sehr stark von der Außenperspektive mit utilitaristischem Unterton bestimmt: Gesunde Menschen beurteilen von außen den Wert eines behinderten Lebens und weichen vor den „vielen Schläuchen“ oder was immer als beängstigend, abstoßend oder „unwürdig“ erlebt wird zurück. Tatsächlich ist dies jedoch psychologisch naiv. In einer Erkrankung zu leben, das zeigen u. a. die Untersuchungen von Birbaumer und seinem Team von der Universität Tübingen (Z. f. med. Ethik 52, 2006, Seite 57 – 70), ist etwas völlig anderes als diese Krankheit von außen zu betrachten. In der Krankheit erscheint manches als lebenswert, was in gesunden Zeiten nicht entdeckt wurde. (Vorausgesetzt es wird mit den Kranken sorgsam umgegangen.) Daran kranken auch viele Versuche, im Nachhinein den Willen eines Kranken zu erkunden, weil sie die Außenperspektive betonen (s. o.).


Zur Position von Hospizarbeit und Palliativmedizin
Hospizarbeit und Palliativmedizin bemühen sich bei Fragen des Umgangs mit dem Sterben um Eindeutigkeit: Wir ermöglichen es sterbenskranken Menschen und ihren Angehörigen – getreu dem Hospizkonzept – dem natürlichen Verlauf der Krankheit in der vom Kranken gewünschten Weise zu folgen, ohne den Eintritt des Todes zu beschleunigen oder ihn zu hinauszuzögern. Dabei lindern wir auftretende Beschwerden nach einem ganzheitlichen Konzept der schützenden Fürsorge (Palliative Care). Gleichzeitig anerkennen wir keinerlei „Grauzone“, sondern nennen jede Maßnahme der aktiven Lebensverkürzung eine Tötung und unterscheiden dies streng vom „sterben lassen“. Dies dient der Sicherheit der Menschen, die sich in den Schutz unserer palliativmedizinischen Fürsorge begeben. Die schwer kranken und sterbenden Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass im Hospiz beim Sterben nicht „nachgeholfen“ wird, sondern dass sie in schützender und lindernder Fürsorge sterben dürfen, wenn für ihren Körper und ihre Seele die Zeit gekommen ist. 

Menschen im Wachkoma sind, wie oben ausgeführt, keine Sterbenden. Insofern gelangen sie nur dann in die Obhut eines Hospizes, wenn zusätzliche, tödlich verlaufende Erkrankungen das Wachkoma begleiten. Unsere Fürsorgepflicht für Menschen im Wachkoma ergibt sich aber auch schon dann, wenn bei diesen Menschen zwar keine zusätzlichen lebensbedrohlichen Krankheiten bestehen aber dennoch die die Frage nach lebensbegrenzenden Maßnahmen diskutiert wird. Wir melden uns insbesondere in diesem Zusammenhang immer dann zu Worte, wenn aus unserer Sicht die Gefahr besteht, dass Methoden der Hospizarbeit missbraucht werden. Dies sehen wir dann als gegeben an, wenn bei Menschen im Wachkoma die Grenze zwischen „sterben lassen“ und „töten“ nicht eindeutig genug gezogen wird und womöglich Methoden von Palliativmedizin und Hospizarbeit genutzt werden sollen, um ein – aus unserer Sicht unzulässiges – Töten zu begleiten.


Literaturhinweis:

Klie, Th., Student, J.-C.: Die Patientenverfügung – was Sie tun können, um richtig vorzusorgen.  9 Auflage. Verlag Herder, Freiburg  2006


Hier finden Sie eine eingehende und wissenschaftlich fundierte begründung der Thesen:

Napiwotzky, A. und Student, J.-C. (Hrsg.): Was braucht der Mensch am Lebensende? – Ethisches Handeln und medizinische Machbarkeit. Kreuz Verlag, Stuttgart 2007

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